8 Gauß und das Zweihöhenproblem

Links → Kapitel 1, Kapitel 2, Kapitel 3, Kapitel 4, Kapitel 5 und 6, Kapitel 7

Neue Methode, aus der Höhe zweier Sterne die Zeit und die Polhöhe zu bestimmen, nebst astr. Beobachtungen, vom Herrn Professor Gauß in Göttingen. 1)

Aus dem lateinischen übersetzt vom Hrn. Prof. Harding daselbst, und unterm 29. May 1809 eingesandt.

1.

          Bekanntlich pflegen reisende Astronomen zu geographischen Ortsbestimmungen sich gewöhnlich der Sonnenbeobachtungen zu bedienen, und aus correspondirenden Höhen derselbst die Zeit, so wie aus ihren Höhen im oder nahe beim Meridian die Polhöhe zu bestimmen. In der That empfehlen sich diese Beobachtungen von mehrern Seiten, vorzüglich wenn man sich eines Spiegelsextanten zu den Höhenmessungen bedient, da sich mit demselben die Höhen der Sonne viel schärfer als die der Sterne messen lassen, und die Ablesung vom Limbus bei Tage leichter, als bei Nacht ist; auch ist die Berechnung der Sonnenhöhen im und nahe beim Meridian so einfach, dass sie selbst dem nicht schwierig seyn kann, der auch nur wenige mathematische Kenntnisse besitzt. Selbst wenn ungünstige Witterung nicht gestattet, correspond. Sonnenhöhen zu erhalten, so läßt sich der Stand der Uhr durch Combination der vom Mittage entlegenen Höhen, und auch die Polhöhe mittels indirecter Methoden, z. B. der Douwes’schen, leicht herleiten.

          Bei allen diesen entschiedenen Vorzügen der ⊙Beobachtungen würde man doch Unrecht haben, wenn man die Sternhöhen ganz vernachlässigen wollte. Sehr oft heitert sich der Himmel bei einbrechender Nacht erst auf, oder verstattet doch wenigstens auf kurze Zeit, Sternhöhen zu messen; oft erlaubt auch die Zeit dem Reisenden nicht, sich bei Tage aufzuhalten, und er würde sich daher um die Geographie schon verdient machen können, wenn er die Lage des Orts wo er übernachtet, aus Sternbbeobachtungen zu bestimmen die erforderliche Fertigkeit besässe. Nimmt man hierzu noch die Unsicherheit der Beobachtungen, die der niedrige Stand der Sonne zur Winterzeit unvermeidlich macht, so wie die Unbequemlichkeit, die der Beobachter durch das Andrängen neugieriger Zuschauer oder durch die Erschütterungen seines künstlichen Horizonts von vorüberfahrenden Wagen erfährt, welches alles bei stiller Nacht größtenteils wegfällt, so wird man den Sternbeobachtungen immer eine nicht unbedeutenden Werth zugestehen müssen.

          Vorzüglich empfehlen sich diese Beobachtungen auch den Seefahrern, denen es von äußerster Wichtigkeit für die Erhaltung ihres Schiffes und oft ihres Lebens selbst ist, den Ort des Schiffes wo möglich alle Tage auszumitteln. Zwar hat es auf dem Meere immer einige Schwierigkeit, den wahren Horizont bei dunkler Nacht mit erforderlicher Genauigkeit zu erkennen: allein ein Fernrohr mit starker Oeffnung das man an den Sext. anbringen kann, wird diesem Hindernisse leicht abhelfen.

2.

          Ein anderer sehr wesentlicher Vortheil dieser Methode besteht darin, daß sich innerhalb weniger Minuten sowohl die Polhöhe als auch die Zeit mit ungemeiner Schärfe bestimmen läßt. Hierzu wird nichts weiter erfordert, als die Höhe zweier Sterne, deren Position bekannt ist, zu messen, und die Zeit der Messungen, welche die Uhr angiebt zu bemerken: der tägliche Gang der Uhr braucht nur so weit bekannt zu seyn, daß sich daraus die Zwischenzeit der Beobachtungen mit Genauigkeit in Sternzeit verwandeln läßt.

          Ohnstreitig ist dieses Problem eins der nützlichsten in der nautischen Astronomie, und es ist daher zu verwundern, daß kein einziger von den Schriftstellern, die diese Wissenschaft vorgetragen haben, sich über dasselbe ausläßt. Zwar lehrt Herr Kraft, (Act. nov. Acad. Petrop. T. XIII.) aus zweier Sterne Höhen die Polhöhe zu bestimmen: aber sonderbar genug schränkt er dieses allgemeine Problem durch die specielle Bedingung ein, daß beide Höhen in einem und demselben Momente gemessen werden sollen. Dadurch werden also nothwendig zwei Beobachter, zwei Meßwerkzeuge und zugleich die genaueste Uebereinstimmung in den Beobachtungen erfordert, Voraussetzungen, denen nicht so leicht ein Genüge geleistet werden kann. Ueberdies ist aber auch diese Bedingung ganz überflüssig, indem jedes wohl ausgerüstete Schiff doch gewiß mit einer Uhr versehen seyn wird, auf deren Gang man sich innerhalb weniger Minuten verlassen kann, auch das Schiff in so kurzer Zeit seinen geographischen Ort nicht merklich verändert und endlich die ganze Aufgabe durch jene Bedingung, in Rücksicht der Rechnung um nichts vereinfacht wird.

3.

          Es läßt sich leicht zeigen, daß das Problem, wie es Hr. Kraft abgehandelt hat, auch so ausgedrückt werden könne: „Aus der gegebenen Lage zweier Punkte auf der Kugeloberfläche in Beziehung auf einen größten Kreis (der hier der Aequator ist) die Lage eines dritten Punktes zu finden, dessen Abstände von jenen Punkten gegeben sind.“ Die ersten beiden Punkte giebt nehmlich die Position der beiden an der Himmelskugel beobachteten Sterne, deren gerade Aufsteigung und Abweichung als bekannt voraus gesetzt wird; der dritte Punkt ist das Zenith des Beobachtungsorts, dessen Declination der Polhöhe gleich ist, und dessen gerade Aufsteigung der kulminierende Punkt des Aequators, folglich auch zugleich die Sternzeit bestimmt. Hiernach beruhet also diese Aufgabe auf der Auflösung dreier sphärische Dreiecke; das erste liegt zwischen den beiden gegebenen Punkten und dem Pole des Aequators, worin zwei Seiten nebst dem eingeschlossenen Winkel gegeben sind, und wodurch die dritte Seite und eine der beiden übrigen Winkel gefunden werden. Das zweite Dreieck schliessen jene beiden gegebenen und der gesuchte Punkt ein: in diesem sind bereits alle drei Seiten bekannt, und es wird daraus ein Winkel abgeleitet, und zwar entweder der am ersten, oder der am zweiten Punkte, je nachdem man in dem ersten Dreiecke als gesuchten Winkel den am ersten, oder den am zweiten Punkte gewählt hatte. Die Summe oder Differenz dieser beiden Winkel bestimmt einen Winkel im 3ten Dreiecke, welches der erste und dritte Punkt und der Pol des Aequators einschließen, und worin außer jenem Winkel noch zwei Seiten bekannt sind. Hieraus findet sich demnach noch der Winkel am Pole und des dritten Punktes Abstand vom Pole (welcher dem Complemente der Polhöhe gleich ist.)

          Schon im 16. Jahrhundert machten die Astronomen von dieser Aufgabe Gebrauch, s. unter andern Tychonis Astron. instaur. progym. P. 221 etc. wo die Position vieler Sterne aus dem Abstande von zwei bekannten Sternen bestimmt wird.

          Man sieht zugleich leicht aus obiger Darstellung, daß dieses Problem jedes Mal zwei Auflösungen zuläßt: denn zieht man aus zwei gegebenen Punkten der Kugelfläche mit den Halbmessern, die den gegebenen Abständen derselben gleich sind, zwei Kreise, so werden sich diese jedes Mal in zwei Punkten schneiden, in deren jedem der gesuchte Punkt liegen kann. Hieraus kann jedoch bei der Anwendung keine Zweideutigkeit entstehen: denn gedenkt man sich durch den ersten und zweiten Punkt einen größten Kreis gelegt, der also der Kugel Oberfläche zwei Halbkugeln theilt, so kann weiter kein Zweifel obwalten, ob der dritte Punkt (das Zenith) und der Nordpol in der nehmlichen Halbkugel oder in verschiedenen liegen, und es ist klar, daß der erste Fall statt finden müsse, wenn der Ueberschuss der geraden Aufsteigung desjenigen Sterns, welcher dem andern zur linken beobachtet wurde, über die gerade Aufsteigung des anderen Sterns (nach dem ersten AR nöthigenfalls um 360° vermehrt ist) zwischen 0° und 180° fällt, der zweite Fall hingegen eintritt, wenn derselbe Ueberschuß zwischen 180° und 360° fällt.

          Uebrigens ist gerade diese in der Natur der Sache liegende Zweideutigkeit des Problems als die Ursache der etwas weitläufigen Rechnungen anzusehen, auf welche die directe Auflösung desselben führt: es soll aber weiter unten gezeigt werden, wie diese sich merklich abkürzen läßt. Will man aber lieber eine indirecte Auflösung vorziehen, so läßt sich diese ungemein geschmeidig machen, wie ich bei einer anderen Gelegenheit zeigen werde.
Das bisher gesagte bezieht sich auf den besonderen Fall, wenn beide Beobachtungen gleichzeitig sind; allgemein aber läßt es sich folgendermaßen darstellen: anstatt des zweiten beobachteten Sterns denke man sich einen Punkt an der Himmelskugel, der mit diesem zweiten Stern einerlei Abweichung, hingegen eine um so viel geringere AR habe, als die Sternzeit beträgt, die zwischen beiden Beobachtungen verflossen ist. Es ist klar, daß dieser eingebildete Stern zur Zeit der ersten Beobachtung dieselbe Höhe erreicht haben würde, die der wirklich beobachtete Stern im Augenblicke der zweiten Beobachtung hatte. Hieraus ergiebt sich also, daß man, wenn man den eingebildeten Stern für den wirklichen setzt, die Rechnung auf den Fall der gleichzeitigen Beobachtung zurück geführt sey.

          Dieses alles beruhet auf rein geometrischen, freilich ganz einfachen Betrachtungen: es wird aber ohne Zweifel manchem angenehm seyn, eine directe Auflösung dieses Problems auf blos analytischem Wege entwickelt zu sehen wodurch sich aufs Neue bestätigen wird, daß alle Wahrheiten, welche aus geometrischen Betrachtungen abgeleitet werden, ebenso zierlich mit Hülfe der Analyse entdeckt werden können, wenn diese nur auf die rechte Art behandelt wird.

4.

          Es sey φ die Polhöhe, α und α’ die gerade Aufsteigung, δ und δ’ die Declination der beiden Sterne, γ und γ’, die gerade Aufsteig. der kulminirenden Punkte des Aequators im Augenblick der ersten und zweiten Beobachtung, oder welches einerlei ist, die in Grade verwandelten Sternzeiten selbst; h die beobachtete Höhe des ersten, h’ die des zweiten Sterns 2), woraus also folgt, daß γ – α und γ’ – α’ die den beiden Beobachtungen zugehörigen Stundenwinkel sind. Man setze ferner γ – α = \lambda; γ’ – α’ = \lambda’ – θ, woraus θ = α’ – α – (γ’ – γ) und folglich bekannt ist, weil γ’ – γ die in Grade verwandelte Sternzeit zwischen beiden Beobachtungen ist.
Hiernach beruht also die Auflösung dieses Problems auf die Entwicklung folgender beider Gleichungen:

(1)   \[\sin h=\sin \delta\sin \varphi+\cos \delta\cos \varphi\cos \lambda\]

(2)   \[\sin h'=\sin \delta'\sin \varphi+\cos \delta'\cos \varphi\cos (\lambda-\theta)\]

          Die Eliminierung einer der beiden unbekannten Größen \lambda oder φ würde auf eine sehr verwickelte Gleichung führen. Herr Kraft hat in seiner Dissertation diesen Weg gewählt, aber seine Auflösung ist meiner Meinung nach ungleich weitläufiger und mühsamer als diejenige, welche unmittelbar aus der Betrachtung dreier Dreiecke hervorgeht, obgleich sie sich bloß auf die Bestimmung von φ einschränkt, und sich auf die Bestimmung der Zeit nicht einlässt. Es ist daher besser, beide, φ und \lambda mit Hülfe einer neuen unbekannten Größe zu eliminieren: zu deren schicklichen Wahl folgende Bemerkung den Weg vorzeichnet. Es ist nehmlich offenbar

    \[(\sin \delta\sin \varphi+\cos \delta\cos \varphi\cos \lambda)^2+(\cos \delta\sin \varphi-\sin \delta\cos \varphi\cos \lambda)^2=\]

    \[=\sin^2 \varphi+\cos^2 \varphi\cos^2 \lambda=1-\cos^2 \varphi\sin^2 \lambda\]

und daher zufolge der Gleichung (1)

    \[\frac{(\cos \delta\sin \varphi-\sin \delta\cos \varphi\cos \lambda)^2}{cos^2 h}+\frac{(\cos \varphi\sin \lambda)^2}{cos^2 h}=1\]

Man kann daher setzen

(3)   \[\frac{\cos \delta\sin \varphi-\sin \delta\cos \varphi\cos \lambda}{\cos h}=\cos u\]

(4)   \[\frac{\cos \varphi\sin \lambda}{\cos h}=\sin u\]

Verbindet man nun die Gleichungen 3 und 1, so folgt

(5)   \[\sin \varphi=\sin \delta\sin h+\cos \delta\cos h\cos u\]

(6)   \[\cos \varphi\cos \lambda=\cos \delta\sin h-\sin \delta\cos h\cos u\]

Man gebe ferner der Gleichung 2 folgende Gestalt:

    \[\sinh'=\sin \delta'\sin \varphi+\cos \theta\cos \delta'\cos \varphi\cos \lambda+\sin \theta\cos \delta'\cos \varphi\sin \lambda\]

und setze für sin φ; cos φ ⋅ cos \lambda; cos φ ⋅ sin \lambda; ihre Werthe aus 5, 6 und 4, so findet sich

    \[\sin h'-\sin h\sin \delta\sin \delta'-\sin h\cos \theta\cos \delta\cos \delta'-\cos u\cos h\cos \delta\cos \delta'+\]

    \[+\cos u\cos h\cos \theta\sin \delta\cos \delta'-\sin u\cos h\sin \theta\cos\delta'=0\]

Diese Gleichung verwandelt sich, wenn man setzt

(7)   \[\frac{\cos \delta\sin \delta'-\cos \theta\sin \delta\cos \delta'}{\sin \theta\cos \delta'}=\cot v\]

in folgende

    \[\sin h'-\sin h\sin \delta\sin \delta'-\sin h\cos \theta\cos \delta\cos \delta'-\]

    \[-\cos h\sin \theta\cos \delta'(\cos u\cot v+\sin u)=0\]

          Macht man ferner v – u = w , so hat man

(8)   \[\frac{\sin v(\sin h'-\sin h\sin \delta\sin \delta'-\sin h\cos \theta\cos \delta\cos \delta')}{\cos h\sin \theta\cos \delta'}=\cos w\]

woraus also w und auch u = v – w bekannt wird.

           Nachdem der Winkel u gefunden worden ist, lässt sich nun auch \lambda aus der Verbindung der Gleichungen 4 und 6 leicht herleiten, woraus sich ergiebt

(9)   \[\tan \lambda=\frac{\cos h\sin u}{\cos \delta\sin h-\sin \delta\cos h\cos u}\]

Ist aber \lambda bekannt, so ergiebt sich auch γ = α + \lambda, und wenn man diesen Winkel in Zeit verwandelt, so hat man den Stand der Uhr. Aus der Verbindung der Gleichungen 4 und 5 ergiebt sich

(10)   \[\tan \varphi=\frac{\sin \lambda(\sin \delta\sin h+\cos \delta\cos h\cos u)}{\cos h\sin u}\]

Mit dieser Formel kann man noch die Gleichung 4 verbinden, so hat man zugleich eine Controle, wodurch die Richtigkeit der Rechnung geprüft wird.


5.

Ueber die im voranstehenden Teil gelehrte Auflösung bemerke ich noch folgendes: da der Winkel w nach der Formel 8 durch den Cosinus gefunden wird, so sind für ihn zwei Werthe, ein positiver und ein negativer möglich und die Aufgabe läßt mithin eine doppelte Auflösung zu, wie bereits oben bemerkt worden ist: Es läßt sich aber auf folgende Art leicht entscheiden, welcher von beiden Werthen in jedem vorkommenden Falle der wahre ist. Eine leichte Betrachtung ergiebt nehmlich, daß der Sinus vom Überschuß des Azimuths des ersten Sterns über das Azimuth des zweiten Sterns von der linken zur rechten Hand gezählt, (sin θ cos δ’ sin w)/(cos h’ sin v) seyn werde. Hieraus folgt sogleich, daß, weil cos δ’ und cos h’ ihrer Natur nach positive Größen sind, auch sin w/sin v gleiches oder entgegengesetztes Zeichen haben müsse, je nachdem der durch den ersten Stern gehende Vertikalkreis von dem, der durch den zweiten Stern geht, zur rechten oder zur linken Hand liegt. Ueber diesen Fall aber kann niemahls ein Zweifel entstehen, indem solche Sterne, deren Vertikalkreise entweder nahe zusammen fallen, oder beinahe eine entgegengesetzte Lage haben, zu diesen Beobachtungen nicht brauchbar sind, und deswegen sorgfältig vermieden werden müssen, wie weiter unten noch mehr auseinander gesetzt werden soll.

Übrigens lässt sich die vorhin gegebene Auflösung auch noch etwas abkürzen und für die numerische Entwickelung durch Einführung zweier Hülfswinkel bequemer einrichten. Setzt man nehmlich

(11)   \[\tan F=\frac{\tan \delta'}{\cos \theta},\]

so verwandelt sich die Gleichung 7 und 8 in folgende:

(12)   \[\tan v=\frac{\cos F\cdot\tan \theta }{\sin (F-\delta)}\]

(13)   \[\cos w=\frac{\cos v\cdot\tan h}{\tan (F-\delta)}\bigg(\frac{\sin h'\cdot\sin F}{\sin h\cdot\sin \delta'\cdot\cos(F-\delta)}-1\bigg)\]

Ferner nenne man einen zweiten Hülfswinkel G, und mache

(14)   \[\tan G=\frac{\tan h}{\cos (v-w)},\]

so verwandeln sich die Gleichungen 9 und 10 in die folgenden:

(15)   \[\tan\lambda=\frac{\cos G\cdot\tan u}{\sin (G-\delta)}\]

(16)   \[\tan\varphi=\cos\lambda\cot(G-\delta)\cdot\]

6.

Die practischen Astronomen pflegen sich nicht selten zu beschweren, daß die von den Theoretikern vorgeschlagenen Methoden zur wirklichen Anwendung nicht immer ganz geeignet seyn, oder wenigstens nicht vollkommen leisten, was sie sich von Ihnen versprechen. Daß dieser Vorwurf die hier vorgetragene Methode nicht treffe, wird das folgende Beispiel hinlänglich dartun, wozu ich die Data aus wirklich angestellten Beobachtungen entlehne. Mit einem Troughton’schen Sexstanten von 10 Zoll fand ich am 21. August 1808 die doppelte und verbesserte Höhe von α im Adler …


1) Ausschnitt aus der Publikation von C. F. Gauß, erschienen in “Astronomisches Jahrbuch für das Jahr 1812“, Berlin 1809

2) In der monatl. Correspondenz Febr. 1809 woselbst sich ein kurzer Auszug aus dieser Abhandlung befindet, ist dieses Problem so vorgestellt, als würden dazu gleiche Höhen der Sterne erfordern. Das dies aber durchaus nicht der Fall sei ergiebt sich schon aus der verschiedenen Bezeichnung die der Verfasser beiden Höhen gegeben hat. Uebrigens würde diese Methode durch eine solche Forderung auch vieles von ihrer Bequemlichkeit und Brauchbarkeit verlieren. H.

 

 



Was noch gesagt werden muss

Wie zu sehen ist, hat Gauß das Zweihöhenproblem gelöst, ohne ein einziges Mal die sphärische Trigonometrie bemühen zu müssen. Doch seine Arbeit kam bei den Seeleuten überhaupt nicht an. Der geometrische Lösungsweg, wie er im Kapitel 4.3.1 gezeigt wird, führt nämlich zum selben Ergebnis, hat aber den Vorteil, dass er praktisch nachvollziebar und damit für viele verständlich ist. Sein Nachteil ist nur der, dass er mit den damals nur verfügbaren Logarithmen nicht verwendbar war. Die Gauß Methode kann nur jemand nachvollziehen, der virtuos  mit mathematischen Umformungsregeln umgehen kann. Sie ist aus diesem Grund nicht allgemein vermittelbar.

Bei Literaturrecherchen fällt auf, dass die Gauß Methode – wenn überhaupt – nur in der deutschsprachigen Literatur Spuren hinterlassen hat und immer nur in zwei Varianten. In der ersten wird die Gauß Methode als unbrauchbar bezeichnet, weil sie grafisch nicht umzusetzen ist. Diese Autoren negieren, dass es mit der Verfügbarkeit von Computern geradezu umgekehrt ist und grafische Lösungen äußerst umständlich zu digitalisieren sind. Andere Autoren beschreiben den geometrischen Lösungsweg genau so, wie er hier im Kapitel 4.3.1 dargestellt ist und bezeichnen das Ganze dann als „Lösung des Zweihöhenproblems durch Carl Friedrich Gauß“. Damit liegen auch sie völlig falsch. Die Methode von Gauß besteht einzig darin, für diese schon lange bekannte geometrische Lösung des Zweihöhenproblems einen analytischen Lösungsweg gefunden zu haben. Man wird allerdings feststellen, dass diese wahre Methode von Gauß nach ihrer Erstveröffentlichung im Jahre 1812 in der Literatur nie wieder thematisiert wurde. 

Weil Gauß in der Seefahrt nie benutzt wurde, konnte auch nicht entdeckt werden, dass seine Formeln, so wie sie im Original angegeben sind, unter bestimmten Voraussetzungen falsche oder gar keine Ergebnisse liefern. Das ist der Fall, wenn die Kimmabstände zu klein sind oder die Überlappung der Höhenkreise nur minimal ist, also in bestimmten Extremfällen. Das ist jedoch erst bei der Umsetzung in die Navigations-App aufgefallen. Man muss hier Korrekturen anbringen, die nachfolgend vorgestellt werden. Sie bestehen in der Addition oder Subtraktion von \pi bzw. 180°, wenn gewisse Bedingungen eintreten, sind also recht simpel. So gilt für V gem. Gl. 4.21:

    \[V=\arctan\frac{\cos F\cdot\tan \theta}{\sin (F-\delta)}+\Big(\text{wenn}(F-\delta)>0;\;\text{dann}\;0;\;\text{sonst}\;\pi\Big)\cdot\]

Das heißt, wenn F – \delta negativ wird, dann muss V um 180° bzw \pi vergrößert werden. 

Damit selbst eine geringfügige Überlappung der Höhenkreise zwei Ergebnisse, einen nördlichen und einen südlichen Standort zu berechnen ermöglicht, muss auch das Ergebnis der Gl. 4.23 korrigiert werden. Wird das nicht gemacht, kann nur einer der beiden Alternativen berechnet werden. Hierzu muss korrigiert werden:

    \[G=\arctan\frac{\tan h}{\cos (V-W}+\Bigg(\text{wenn}\bigg(\frac{\pi}{2}-V+W\bigg)\cdot P<0;\;\text{dann}(\;\pi\cdot\text{sign von}\; \delta);\;\text{sonst}\;0\Bigg)\cdot\]

In Worten gilt also, dass G um \pi vermehrt oder vermindert werden muss, so wie es das Vorzeichen der Deklination \delta vorgibt, sobald die angegebene Bedingung anfällt. Genau dasselbe muss dann natürlich auch auch mit Gs nach einer Versegelung geschehen.

Eine weitere Korrektur betrifft dann auch \taunach Gl. 4.24:

    \[\tau=\arctan\frac{\cos G\cdot\tan (V-W)}{\sin (G-\delta)}+\Big(\text{wenn}(G-\delta)\cdot P>0;\;\text{dann}\;0;\;\text{sonst}\;\pi\Big)\cdot\]

Wenn also das Produkt von G – \delta und P negativ wird, dann muss \tau um \pi vergrößert werden.
Dasselbe trifft dann auch für \tau s nach Versegelung zu, wobei dann das Produkt von Gs – \delta und P zu prüfen ist.

Schließlich kann es sogar passieren, dass die Berechnung der versegelten Länge gemäß Gl. 4.26 Werte von größer als 3\pi liefert. Das ist möglich, weil das \tau nach dieser Formel nicht ganz der üblichen Definition des Stundenwinkels entspricht. Die übliche Umformung einer berechneten erdumlaufenden Länge \lambda^\ast s auf \lambda s meint, dass \lambda s gleich –\lambda^\ast s und somit eine Westlänge ist, solange \lambda^\ast s kleiner als \pi bzw. 180° ist. Ist \lambda^\ast s aber größer als \pi, dann muss \lambda^\ast s von 2\pi subtrahiert werden und es sind Ostlängen. Sollte \lambda^\ast s größer als 2\pi werden, dann ergibt sich nach dem Abzug von 2\pi ein negatives Vorzeichen und es sind folglich Westlängen. In dem Fall, dass \lambda^\ast s größer als 3\pi ist, muss \lambda^\ast s vor Anwendung dieser Regel um 2\pi vermehrt werden. Als Formel schreibt man für das alles:

    \[\lambda s=\big(\text{wenn}\,\lambda^\ast s<\pi;\,\text{dann}\,-\lambda^\ast s;\,\text{sonst}\,\pi\big)+\big(\text{wenn}\,\lambda^\ast s>3\pi;\,\text{dann}\;2\pi;\,\text{sonst}\,0\big)\cdot\]

Die erste Klammer enthält die übliche Regel und in der zweiten Klammer wird der Zusatz von 2\pi angegeben, wenn \lambda^\ast s tatsächlich einmal größer als 3\pi werden sollte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert